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kolumnen

Stein auf Stein

Stein auf Stein, Stein neben Stein und dazwischen Steine. Gross, klein, eckig, rund, bucklig, glatt. Schmutzig von der Erde in der sie zuvor gelegen hatten, blankpoliert vom Bach oder grün von Algen. Mit jedem Tag gewinnen die Steine an Charakter. Den gelben, der so perfekt zu passen schien und es doch nicht tat werde ich nicht vergessen. Auch nicht den roten, langen, dem ich nicht viel zutraute, der aber auf Anhieb passte und mich glücklich machte. 16 Leute haben letzte Woche gemeinsam 14 Meter eine Trockenmauer im Calancatal wieder aufgebaut. 16 einander fremde Leute, die meisten jenseits des 40. Geburtstages, hausten in einem einfachen Pfadiheim, schliefen auf 15cm hohen Gummimatten und teilten sich zwei Duschen. Was noch zwanzig Jahre früher kein Problem war präsentierte sich als Herausforderung. Wo die elektrische Zahnbürste einstecken? Wann das Handy laden, wenn die Steckdose nur bei gleichzeitig brennendem Licht Strom hat? Wie einschlafen, wenn der Schnarcher im Zimmer nicht der eigene Mann ist? Würde ich sechs Tage ganz ohne Schlaf überleben?
Gemartert von der ersten Nacht stehen wir in der Kälte vor der alten Mauer. Ein Steinhaufen, vier Frauen, zwölf Männer. Bis da nur mal eine Rangordnung festgelegt ist! Unter den Männern gibt es zu viele Chefs. Ich frage mich, ob das Ganze eine gute Idee war. Bald kommt aber Hoffnung auf: Nach zwei Stunden ist Pause. Und kurz darauf Mittagessen, am Nachmittag gibt es Kaffee und selbstgebackenen Kuchen (jeden Tag!) und um 19 Uhr Znacht. Das Essen kommt von der benachbarten Bio-Bäuerin die selber kocht. Es schmeckt wie im Gourmet-Tempel.
Von da an geht es auf- und vorwärts. Der Ehrgeiz hat uns gepackt, die Mauer muss fertig werden. Pausen sind nicht mehr wichtig. Immer rascher finde ich den passenden Stein. Und wenn nicht, gibt es ja auch noch Hammer und Meissel. Resp. Fäustel, Setzer und Preller. Die Kolleginnen und Kollegen helfen mit, wenn Not am Mann ist. Die Frauen sagen, wo der schwere Deckstein hingehört, den sie zurechtgemacht haben, die Männer heben ihn an seinen Platz.
Und wirklich, am Freitagabend ist aus dem Steinhaufen die schönste aller Mauern entstanden. Und aus einem Haufen einander vorsichtig bis misstrauisch begegnender Menschen ist in kurzer Zeit ein Team geworden, das zusammenhält. Der Facebook-Freund, der vermeldet, er sünnele in Oman, tut mir fast ein bisschen leid.

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