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kolumnen

Freie Schweizer

„Heeejjiii“, rief mein Sohn hochgradig alarmiert durch die Wohnung, „die Meerschweine sind los!“ Wahrhaftig, zwei der Tiere waren auf der falschen Seite des Geheges, in dem sie normalerweise die Reste des Rasens vernichten. Die beiden Weibchen, die die Gelegenheit ihres Lebens gehabt hätten, um das Weite zu suchen, rannten völlig konfus rund um das Gehege rum und suchten die Lücke, durch die sie raus geschlüpft waren, um wieder rein zu kommen.

Keinen Gedanken verschwendeten sie an die Möglichkeit, nach einem kurzen Sprint über die Wiese künftig ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Nein. Sie wollten unbedingt in die Gefangenschaft zurück. Dies könnte ein Kompliment für die gute Haltung sein, die sie bei uns geniessen. Der wahre Grund ist simpler: Leo, ihr Männchen und Boss, war noch im Gehege drin!
Es geht jetzt aber nicht um Männer und Frauen, sondern um die Freiheit und was man damit macht. „Betet, freie Schweizer, betet“ werden wir am 1. August singen. Recht zahm, verglichen mit dem Text aus der früheren Nationalhymne: „Vaterland, ewig frei, sei unser Feldgeschrei, Sieg oder Tod! Frei lebt, wer sterben kann, frei, wer die Heldenbahn steigt als ein Tell hinan. Mit uns der Gott!“ Das fetzt! Natürlich ist die neue Hymne zeitgemässer. Heute benehmen wir uns nicht mehr wie kampfwütige Bauern mit Armbrüsten und Mistgabeln, sondern beten, dass es irgendwie schon gut kommt mit Europa. Auch wenn die Politik das heisse Eisen lieber liegen lässt.
Freiheit ist für viele ein Ideal. Man wünscht sich genügend Geld für die Freiheit von der Arbeit, eine einsame Insel oder eine Alphütte, um frei von sozialen Verpflichtungen und gesellschaftlichen Zwängen zu leben. Wie viele Menschen kennen Sie, die sich einen solchen Traum bleibend erfüllt haben? Ich keinen einzigen persönlich und wenn ich mir die reichen Leute der Welt ansehe, die weder auf Arbeit noch die Meinung der Mitmenschen angewiesen wären: Die meisten arbeiten und versuchen, zumindest mit den ihnen nahen Menschen gut auszukommen. Totale Freiheit scheint ein Zustand zu sein, den man auf Dauer nicht aushält. Und man bezahlt für die Freiheit einen Preis. Unsere Meerschweinchen hätten auch bezahlt; der Fuchs hat ja schon öfter einen Augenschein bei ihrem Gehege genommen. Was der Preis sein wird, den die Schweiz bezahlen muss, wenn sie sich gegenüber Europa alle Freiheiten herausnimmt, möchte ich lieber nie erfahren. „Betet, freie Schweizer, betet.“

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