kolumnen
Tierische Panik
Ich habe das Fürchten gelernt. Am letzten Samstag.Ich war der Meinung, es gehe etwas schneller, wenn nicht der 86-jährige Vater auf die Leiter steige, um die Dachrinne von Laub zu befreien, sondern wenn das die 48-jährige Tochter erledigt. Ausserdem hat der Vater leichte Höhenangst, wovon die Tochter noch nie betroffen war. Also rauf aufs Dach, das wäre ja gelacht.
Leider hatte ich die Rechnung ohne meine tierischen Instinkte gemacht. Irgendetwas im Oberstübchen war mit meinem Vorhaben jedenfalls ganz und gar nicht einverstanden. Von Tritt zu Tritt stieg mein Puls und als ich oben war wusste ich eines mit Sicherheit: Ich habe Angst wie noch nie in meinem Leben! Ich schaffte es zwar noch, den Eimer für das Laub hochzuziehe, was aber meinem Unbewussten die Meldung überbracht haben musste, dass ich ernsthaft da oben bleiben wollte. Und dann war es fertig. Meine Beine zitterten unkontrollier- und unberuhigbar.
Die ganze Leiter vibrierte und meinem Kopf wollte da oben gar niemand mehr gehorchen. Immerhin bin ich es von früher scheinbar doch noch gewohnt, auf meinen Vater zu hören und der sagte: Komm runter! Der Abstieg gelang trotz der schlotternden Knie. Unten angekommen war ich fix und fertig und der väterliche Vorschlag, sich nach diesem Schrecken mit Rotwein zu stärken, war Musik in meinen Ohren.
Wieder beruhigt und gestärkt habe ich dann nachgelesen, was eigentlich mit einem passiert, wenn man Angst hat und wie es zu so einer Panikreaktion kommt. Sehr spannend. Wenn er Angst hat, versucht der Körper zuerst, abzuhauen. Es werden jede Menge Hormone ausgeschüttet und die Muskeln angespannt. Dumm bloss, dass man von einer Leiter nicht so schnell wieder runterkommt. Vor lauter Anspannung haben die Muskeln angefangen zu zittern, was auf einer Leiter oben eine eher unpassende Reaktion ist. Zum Glück ist nicht das passiert, was geschehen kann, wenn die Flucht nicht möglich ist, nämlich dass man erstarrt. Entweder wäre ich dann wie ein Stein runtergefallen oder ich würde mich immer noch dort oben festklammern. Stellen Sie sich die Peinlichkeit vor, von der Feuerwehr von einer Leiter gerettet werden zu müssen! Fazit: Im äussersten Notfall sind wir nicht viel mehr als instinktgesteuerte Tiere. Nur dass wir weniger Übung haben im Umgang mit diesen Instinkten als zum Beispiel unsere Meerschweinchen. Ob es wirklich eine gute Idee ist, dass wir Menschentiere mit all unserer Technologie versuchen, die Natur – zum Beispiel die Kernspaltung – zu beherrschen?
