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Ausschlagen

Jeden Frühling bewundere ich Bäume sehr. Gerade noch standen sie als kahle Gerippe da. Und dann schlagen sie aus. Das heisst wohl so, weil man wirklich das Gefühl hat, dass auf einen Schlag alle Blätter da sind. In hellem gelbgrün spriesst alles neu, was im letzten Herbst tot zu Boden gefallen war. Keine alten Sorgen, keine schlechten Erfahrungen belasten das frische Grün. Umweltverschmutzung, Klimaerwärmung, Hagel, Unwetter – das alles kümmert die Neulinge kein bisschen. Bloss wachsen und werden ist ihr Ziel. „Ohne viel zu überlegen“ wollte ich gerade noch schreiben, aber ich gehe jetzt mal davon aus, dass Bäume und ihre Blätter sowieso nicht so viel studieren.

Beneidenswert. Wir Menschen versuchen vielleicht ähnliches, wenn wir einen Frühlingsputz veranstalten. Altes entsorgen und hinter sich lassen, Gerümpel endlich loswerden, Raum schaffen für Neues. Das ist allerdings zuerst einmal ein elender Krampf. Wir stecken jedenfalls gerade mittendrin im Entrümpeln. Nach ungefähr 15 Jahren in derselben Wohnung hat sich unvorstellbar viel Krempel angesammelt. Ich weiss noch gut, wie ich anfänglich etwas ratlos war, angesichts des vielen vorhandenen Platzes und der Leere in der neuen Wohnung. Die hat sich aber bald gefüllt. Und wir füllen jetzt Sack um Sack mit Dingen, die keine Bedeutung mehr haben, die nicht mehr gebraucht werden und auch sonst von niemandem mehr gebraucht werden könnten. Es ist erschreckend. Das haben wir alles einmal bezahlt und in die Wohnung rein getragen. Aber es ist auch schön und lustig. Viele Erinnerungsstücke tauchen auf. Besondere Kinderkleider, einst geliebte Spielsachen, Bastelarbeiten und Zeichnungen ohne Ende, Briefe, Karten, Zettelchen. Belege für zwanzig Jahre Leben als Familie. Das wandert natürlich nicht an den Römerweg sondern wird auch weiterhin aufgehoben. Schliesslich will ich mich auch in zehn und zwanzig Jahren noch daran freuen – und der leichten Melancholie nachhängen, die sich einstellt, wenn man merkt, wie schnell die Kinder gross geworden sind. Man mag es ja nicht glauben, dass man diesen Satz je sagen wird, wenn man dank den lieben Kleinen nächtelang nicht mehr geschlafen hat. Aber es ist halt doch so. Schön, dass sie jetzt ihre eigenen Wege gehen können. Aber als sie noch „ich lib dich“ auf ein Zettelchen gekritzelt haben, war es auch schön. Solche Erinnerungen, das gelebte Leben, sind vielleicht für uns dasselbe wie das abgefallene Laub der Bäume. Es liegt ihnen zu Füssen und wird langsam wieder zu Erde, aus der sie sich nähren können. Damit das frische Ausschlagen auch im kommenden Jahre wieder gelingt.

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