kolumnen
Über den Rand hinaus
Ich schaue über den Rand meines Bildschirms aus dem Fenster. Der Frühling ist da. Es grünt und blüht, man möchte die Sicht geniessen. Doch mein Blick rutscht immer wieder zurück: Frierende, weinende, verzweifelte Kinder, Frauen und Männer. Auf der Flucht vor dem Tod in einem verworrenen Krieg. Sie haben ein einziges Ziel: Überleben.
Als ich noch ein Kind war gab es eine Hungersnot in Bangladesch. Ich erinnere mich an das eine Foto eines hohläugigen Kindes, das für eine entsprechende Geldsammlung verwendet wurde. Das Bild war zwar beängstigenden, aber auch sehr fremd, sehr exotisch, sehr weit weg von mir. Mittlerweile werden wir täglich mit dramatischeren und lebensnäheren – respektive todesnäheren – Bildern eingedeckt. 
Einerseits ist das richtig. Es ist wichtig dass wir wissen, dass man nicht überall auf der Welt gemächlich den Bienli zuschauen und sich auf das erste Grillfest freuen kann. Andererseits dürfen wir uns von dem vielen Elend nicht entmutigen lassen. Wer findet: „Die sollen ihre Probleme selber lösen“ muss hier nicht weiterlesen. Ich persönlich gehe aber davon aus, dass die menschliche Gemeinschaft jeden einzelnen Menschen einschliesst. Und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sich die Menschen deshalb so weit entwickelten, weil sie einander helfen können. Helfen wollen. Wenn jemand Sie um Hilfe bittet sagen Sie doch meistens "Ja", nicht wahr? 
Wenn man nun nicht persönlich Bootsflüchtlinge retten kann, wenn man keine politische Unterhändlerin ist, wenn man zweifelt, ob das Sammeln von Kleidern, Spielzeug und Geld wirklich nützt: Kann man trotzdem helfen? Ja, es ist ganz einfach hierzulande: Weiterhin dafür sorgen, dass Recht und Gerechtigkeit gelten. Weiterhin unseren Frieden schützen, der auf unserer demokratischen Kultur gründet. Weiterhin dafür sorgen, dass unser Land ein Ort der Ruhe und Erholung ist. Auch für alle die Verzweifelten, die als Flüchtlinge zu uns kommen. 
Wir haben keinen Platz? Kein Geld? Das ist lächerlich. Meine Grossmutter wohnte mit Mann, Vater und Tochter in einer kleinen Dreizimmerwohnung. Trotzdem war da im zweiten Weltkrieg noch Platz für ein Flüchtlingsmädchen. Und die meisten von uns haben inzwischen so viel mehr! Wenn es um Leben und Tod geht, haben wir noch sehr, sehr viele Reserven. Lassen wir uns vom unmenschlichen Extremismus und Hass – egal von welcher Seite er kommt – nicht anstecken. Bewahren wir einen kühlen Kopf und ein warmes Herz. Seien wir Menschen im besten Sinne. Das hilft. Auch im kleinen Rahmen, direkt vor unserem Fenster.
