kolumnen
Keine Zeit zum jammern
Alle Jahre wieder regen wir Genossinnen und Genossen uns am ersten Mai auf. Über Abzocker, Ausnutzer, die Mächtigen. Gleichzeitig regen sich SVP-Delegierte auf über Ausländer in der Schweiz, über Europa, das Ausland, über Invalide, Arbeitslose und Linke. Die FDPlerinnen nerven sich über jedes Gesetz und alles Andere, was sie – vermeintlich – am Geldverdienen hindert.
Die Grünen beklagen die Umweltzerstörung, CVP und EVP den Zerfall der Familien. Kurz: Jede Partei hat Themen, über die sie jammert. Jahrein, jahraus. Die PR-Berater sagen, das müsse man, damit das Volk merkt, welche Themen zu welcher Partei gehören. Na ja, zumindest ist klar, wer welches Thema bejammert. Beim Jammern bekommen die Parteien auch noch reichlich Unterstützung. Die Bauern jammern, die Gewerblerinnen, die Unternehmer, die Gewerkschafterinnen, Lehrer, Männer und Frauen – alle jammern. Und ich jammer hier über das Jammern. Das muss jetzt aufhören, weil es doch auf die Nerven geht, dieses Gejammere. 
Also: Schluss damit. Wir wohnen in einem Land, in dem sehr vieles sehr stimmt. Angefangen bei der wunderbaren Landschaft. Sei es nun direkt neben dem Flughafenzaun oder auf 3000 Meter Höhe, die Schweiz ist schön. Unser politisches System schliesst höchstens Ausländer aus und dies auch nicht mehr überall. Wer will, kann mitreden, mitbestimmen, sich engagieren. Ein Leben in Frieden ist garantiert. Ein Leben in Wohlstand nicht, aber verhungern muss trotzdem niemand. Wir sind aber offenbar schon so an diese Umstände gewöhnt, dass wir nicht mehr wahrnehmen, wie wertvoll sie sind.  
Vielleicht sollten wir Herrn Levrat als Helfer nach Kantha Bhopa schicken, Herrn Brunner zum säubern von ölverseuchten Stränden nach Kalifornien, Herrn Darbellay als Sanierer nach Griechenland und Herrn Pelli als Gewerkschafter in einen chinesischen Steinbruch. Und wir hier könnten in die Hände spucken, statt zu jammern. Der eine engagiert sich in einem Sportverein, damit genügend Kinder Trainingsmöglichkeiten haben, die andere hilft in Ihrer Kirche bei einer Aktion zum Kennenlernen anderer Religionen. Die Nachbarn nehmen Ferienkinder aus weniger privilegierten Ländern auf und wir werden im Herbst im Calancatal mithelfen, Steinmauern wieder aufzubauen. Die Möglichkeiten sind vielfältig und unzählig. Und eines ist gewiss: Zum Jammern bleibt keine Zeit.
